Hans Chemin Petit – Nachruf

Alternativ
1966
Foto: Ilse Buhs, Berlin

Hans Chemin-Petit, der im Alter von 79 Jahren verstarb, war der Berliner Hochschule der Künste (der vormaligen Hochschule für Musik) seit seiner Studienzeit in den Jahren 1920-26 verbunden. Hier studierte er bei Hugo Becker Violoncello und bei Paul Juon Komposition,
und die Staatliche Akademie für Kirchen- und Schulmusik berief den Siebenundzwanzigjährigen bereits als Dozenten für Theorie und Komposition. Wenig später im Jahre 1936, wurde Chemin-Petit zum Professor für Theorie und Komposition an die Berliner Hochschule für Musik ernannt. Und vor allem als Theorielehrer, aber auch als Leiter des Kammerchores der Abteilung Schulmusik hat Chemin-Petit an der Hochschule bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1969 gearbeitet.

Hans Chemin-Petit wurde im Jahre 1902 als Sohn einer französischen Emigranten-Familie von Musikenthusiasten in Potsdam geboren. Sein Vater war Dirigent und Komponist, seine Mutter Sängerin. Früher Unterricht im Violoncellospiel und erste kompositorische Versuche als Schüler beeinflußten seine Studienwahl. Und während seines Studiums bereits verdiente sich der junge Musiker sein erstes Geld in Berliner Cafés am Ku-Damm und mit der musikalischen Untermalung von Stummfilmen in Off-Kurfürstendamm Kinotheatern.

Die lebenslange, schwierige Balance zwischen seinen Aktivitäten als Hochschullehrer, als Dirigent und als Komponist hat Hans Chemin-Petit mit staunenswerter Gelassenheit praktiziert. Als Lehrer war er von liebenswürdiger Anteilnahme, wenn auch sein Habitus stets über jene Nuancen von Noblesse verfügte, die jede allzu private Annäherung vermied und dem Gespräch wohltuende Sachbezogenheit abverlangte. Und selbst später, als wir beide Lehrende waren und ich als Musikkritiker im Parkett seine Aufführungen beobachtete, blieb im freundschaftlich-kollegialen Gespräch jene Aura unverwechselbarer Selbstbezogenheit um ihn, die alle schöpferischen Menschen prägt und auszeichnet.

Umso erstaunlicher, den Dirigenten Chemin-Petit zu erleben, den Dirigenten des Philharmonischen Chores vor allem, den er seit dem Kriegsjahr 1943 leitete oder am Pult des SOB oder anderer Berliner Orchester. Dann offenbarte sich der Espressivo-Musiker Chemin-Petit, ein Musiker, der noch romantisches Pathos zu vermitteln und wahrhaft zu gestalten vermochte: Und, staunenswert genug, noch in den letzten beiden Jahrzehnten, als jene neue fruchtbare Auseinandersetzung mit aufführungspraktischen Problemen Alter Musik, der Renaissance und des Barock begann, hielten seine Interpretationen der Bachschen Johannes-Passion etwa oder der Matthäus-Passion stand: einfach darum, weil sie bruchlos ein Konzept realisierten, zum Sprechen brachten, das zugleich ein wesentliches Stück musikalischer romantischer Tradition im öffentlichen Bewußtsein wachhielt.

Hans Chemin-Petits kompositorisches Oeuvre dagegen wäre als spätromantisch völlig abwegig charakterisiert. In seinen Opern (»König Nicolo«, 1959, »Die Komödiantin«, 1965 und andere), in seinen Oratorien, Orchesterwerken und in seiner Kammermusik, ja selbst in seinen Chorsätzen bevorzugte Chemin-Petit eine kompositorische Handschrift, die eher zur Eleganz, zu einer neuen, neoromantischen Feingliedrigkeit tendierte. Und wie Strawinskys Oeuvre, so hat auch seine kompositorische Arbeit weder je auf tonale Gravitationen noch auf die Dominanz thematischer Charaktere verzichtet.

Hans Chemin-Petits Begabung zur Kommunikation, sein Sinn für Balance und Ausgleich, führte ihn in die Vorstände vieler Verbände. Er wurde Mitglied im Vorstand des Deutschen Komponistenverbandes und im Vorstand der Dramatiker-Union, sowie Vorsitzender im Werkausschuß der GEMA und in anderen Vereinigungen. Die Berliner Akademie der Künste ehrte ihn als ihr Mitglied, und in den Jahren 1968-1981 war Chemin-Petit Direktor der Abteilung Musik der Berliner Akademie der Künste. Im Jahre 1968 erhielt er das Bundesverdienstkreuz, und zehn Jahre später wurde Hans Chemin-Petit die »Goldene Nadel« der Dramatiker-Union verliehen.

Sein Tod betrauert nicht nur der Berliner Philharmonische Chor, dem er nahezu vierzig Jahre lang gedient hat. Denn Hans Chemin-Petit lebte jene große Tradition musikalischer Romantik, deren Kenntnis und unmittelbare Umsetzung nun mehr und mehr abstirbt. Die Hochschule aber hat jenen selten gewordenen Hochschullehrer verloren, der die alte Tradition der Musikereinheit von Komponist und Interpret noch mit Leben zu füllen vermochte.

 

Wolfgang Burde